Lehrangebote

Anne–Katrin Fenk

MA Raumstrategien

Projekt

Politik / Poetik des Raumes

Politik / Poetik des Raumes
Eine politisch–künstlerische Recherche zur Mystifizierung der Stadtentwicklung Berlins nach dem Mauerfall.

In seiner 1998 verfassten Erzählung Stadterfahrungen skizziert Henri-Pierre Jeudy Berlin in den frühen Wendejahren als eine Stadt „die an den Schuhen klebt“, ermüdet von den geschichtlichen Exzessen, die das Bestreben der Politik nach einer neuen, globalen Signifikanz über sich ergehen lässt. Um den Umbau der Stadt so erfolgreich wie möglich gestalten zu können musste die Stadt gefällig zu erfassen sein, sich in einem vereinfachten Narrativ ihres stadtgeschichtlichen Erbes fügen. Folglich überhöhte sich die „Intensität ihrer Zeichen“ (Alexanderplatz, Potsdamer Platz, Schlossdebatte). Der Fall der Mauer 1989 löste eine Transformation der urbanen Landschaften in damals unbekannter Dimension und Geschwindigkeit aus. Die (Aus-)Wirkungen im Stadtgewebe wurden in den vergangenen Jahren vielfach dokumentiert, jedoch gibt es ein kollektives Unbehagen in Bezug auf die Sammlung, das Referenzieren und die Bewertung des stadtgeschichtlichen Nachhalls der Nachwendezeit. Die Radikalität des Umbruchs, insbesondere das Städtische betreffend, wird zunehmend unsichtbarer und die Bewertung gerät erneut zwischen die ideologischen Fronten machtpolitischen Wirkens und den Wirkungsmechanismen der globalen Immobilienspekulation. Gegenwärtig verblassen die grundlegenden Verhandlungen, die Prozesse der Stadtpolitik und die Kultur der 90er Jahre neben dem beharrlich zitierten Erbe ökonomisch erfolgreicher Protagonist*innen und der Großprojekte. Was bleibt ist die Rückschau in Form von urbanen Mythen. Jene urbanen Mythen entstehen zumeist in Zeiten gesellschaftspolitischer Umbruchsphasen und füllen das Vakuum der Wertung, Legitimation und Identität von Urbanität für die „Stadt von Morgen“.

Anlass des Theorie-Praxis-Projekts Politik / Poetik des Raumes ist infolgedessen die kritische Auseinandersetzung mit der Konstruktion des städtischen Gefüges und der immanenten stadtgeschichtlichen Mythen Berlins nach der Wiedervereinigung. Wie werden Mythen zusammengesetzt? Wie funktionieren die (Werte)-Konstruktionen der Mythen und ihre angebliche Unantastbarkeit beziehungsweise Zeitlosigkeit? Welche Idee von Geschichte liegt ihnen zugrunde? Ziel der raumstrategischen Arbeit ist es mit künstlerischen Mitteln sich einer alternativen Erzählung zu nähern. Dabei sollen zuvorderst die narrativen und performativen Mittel der 90er Jahre aus dem gegenwärtigen Blick nachgespürt, gesammelt und künstlerisch neu „vermessen“ werden.

Die von Krisztina Hunya und Arkadij Koscheew kuratierten Filmabende stellen verschiedene Beispiele filmischer und narrativer Strategien vor, die sich den sozialen, ökonomischen und raumpolitischen Veränderungen Berlins seit 1989 widmen sowie auf den erweiterten Kontext der voranschreitenden Kommodizierung des Raums eingehen. Die abendlichen Kurzvorträge von eingeladenen Protagonist*innen reflektieren die Projekte der Nachwende und stellen sie zur Diskussion.

Der Workshop mit dem Künstler Martin Kaltwasser wird in Form von adhoc (Bau-)Werken die Auseinandersetzung mit dem Thema und die Recherchearbeit räumlich sichtbar werden lassen.

Politics / Poetics of Space
In his 1998 short story Stadterfahrungen, Henri-Pierre Jeudy sketches Berlin in the early years ofthe fall of the wall as a city "that sticks to shoes", tired of the historical excesses. A city that has to endure the striving of politics for a new, global significance. In order to make the rebuilding of the city as successful as possible, the city had to be easy readable, to submit to a simplified narrative of its urban heritage. As a result, the "intensity of its signs" was exaggerated (Alexanderplatz, Potsdame rPlatz, Palace-debate). The fall of the Berlin Wall in 1989 triggered a transformation of the urban landscapes in a dimension and speed unknown at the time. The impact on the urban fabric has been documented many times in recent years, but there is a collective anxiety regarding the collection, referencing, and evaluation of the post-reunification echo of urban history. The radicality of the upheaval is becoming increasingly invisible, and the evaluation of the city once again gets caught between the ideological fronts of power politics and the mechanisms of global real estate speculation. At present, the fundamental negotiations and processes of urban politics and culture of the 1990s are increasingly fading away due to the persistently quoted legacy of economically successful protagonists and large-scale projects. What remains is a retrospective of urban myths. These urban myths mostly emerge in times of socio-political upheavals and fill the vacuum of valuation, legitimation, and identity of urbanity for acity of tomorrow.

Taking this into account, the theoretical-practical project Politics / Poetics of Space is designed to critically research the construction of the urban fabric in the post-reunification years and the interwoven myths of Berlin's urban history. How are those myths designed? How do the (value-)constructions of myths and their alleged inviolability or timelessness function? Upon what idea of history are they based on?
The aim of the spatial-strategic work will be to approach an open (alternative) narrative throughartistic means. First and foremost, the narrative and performative tools of the 1990s will be traced from the present perspective, collected and artistically "measured" anew.

The screenings curated by Krisztina Hunya and Arkadij Koscheew present different examples of cinematographic and narrative strategies that have addressed the social, economic and spatial changes of Berlin since 1989 as well as the larger implications of the rapidly advancing commodification of space. The short evening lectures with invited protagonists will reflect on the projects of the post-war era and put them up for discussion. The workshop with the artist Martin Kaltwasser will make the debate and the work spatially visible in the form of an ad hoc (construction-)works.


Literaturauswahl / Preliminary Bibliography

Politics / Poetics.Das Buch zur documenta X. Catherine David, Jean-François Chevrie (Hg.), HatjeCantz Verlag, Ostfildern 1997

Mythen – Aufschreibesysteme / myths–notations
Die Buribunken. Carl Schmitt, Summa 1918
Der Mythos heute. Roland Barthes, in: Roland Barthes. Mythen des Alltags, Suhrkamp, Berlin 2012, S. 251–316
Does Writing have a future? Vilém Flusser, Erstveröffentlichung, Die Schrift. Hat schreiben Zukunft?, 1987
Logik der Sammlung. Am Ende des musealen Zeitalters. Boris Groys, Carl Hanser Verlag 1997

Stadtgeschichtliche Mythen / Urban Myths
Mythos oder Fiktion. Frank-Bertolt Raith, in: Werk, Bauen + Wohnen, Band 81, 1994, S. 49–54
Stadt auf Durchreise. Boris Groys, in: Boris Groys. Logik der Sammlung, Carl Hanser Verlag 1997
Stadterfahrungen. Tokio, Rio, Berlin New York, Lissabo. Henri-Pierre Jeudy, Merve Verlag 1998
Stadtpolitik. Elitisten, Pluralisten Strukturalisten. Hartmut Häußermann, Dieter Läpple und Walter Siebel, edition suhrkamp, 2008

Mythos des Marktes / Myths of the Market
Flugzeuge werden ja auch nicht demokratisch geflogen. Léon Krier & Rob Krier im Gespräch, in: The Dialogic City – Berlin wird Berlin. Arno Brandlhuber, Florian Hertweck, Thomas Mayfried (Hg.), Verlag der Buchhandlung Walther König, 2015, S. 364–381
Fiese Attacke. In: Die ZEIT, Nr. 44/1991,https://www.zeit.de/1991/44/fiese-attacke
Die kapitale Schnauze. Berlin – Selbstzerstörung und wiederkehrende Selbsterzeugung. Ian Buruma, in: Lettre International 43, 1998

Ost / East
Was gewinnen wir? Thomas Flierl & Christian Schöningh im Gespräch, in: The Dialogic City Berlin, Berlin wird Berlin, A. Brandlhuber, F. Hertweck, T. Mayfried (Hg.), Verlag der Buchhandlung Walther König, 2015, S. 625–644
Massakrierte Ideen. Rem Koolhaas, in: Frankfurter Allg. Zeitung, 16. Oktober 1991
Apokalypse oder Geist einer neuen Zeit. Rudolf Bahro, Edition Ost, Berlin 1995
Architektur und Kunst.Texte 1964–1983. Bruno Flierl, Verlag der Kunst, Dresden 1984
Berlin Babylon. Hubertus Siegert, Dokumentarfilm, 2001, 88 Min.

West
Visionäre sterben früher – Ungeklärter Mord an Berliner Baubeamten. Rolf Lautenschläger, in: taz 10.06.2011, https://taz.de/Ungeklaerter-Mord-an-Berliner-Baubeamten/!5118895/
Regulierung, Deregulierung, Regulierung des Wohnungsmarktes. Klaus Novy, in: Arch+ 99: Wohnungsnöte, aufgewacht?, Juli 1998, S. 58–61

Wintersemester 2019/2020

Master

Wochentag(e) : Donnerstag

Turnus : Wöchentlich

Zeit: 14.00 h – 20.00 h

Beginn : 24.10.19

Ende : 06.02.20

Ort : Raumstrategien, T3.02


Teilnahme (Pflicht / Wahlpflicht / Wahl) : Regelmäßige Teilnahme

Teilnehmerzahl : 15 (0)

Wochenstunden : 4

Gesamtstunden : 8