Seminar
SUBVERSION ODER SUBTILITÄT? Gedanken über flache und dicke Formalismen
SUBVERSION OR SUBTLETY? Thoughts about flat and thick formalisms
This semester, the May 68 celebrates its fiftieth anniversary and Jacques Rancière proclaimed ten years ago in his “post-Situationist wisdom” that today's situation “makes any protest a spectacle and any spectacle a commodity”. This “left-wing irony or melancholy [...] urges us to admit that all our desire for subversion still obey the law of the market. [...] It thus offers everyone what they might desire”.
The seminar will focus on three main topics with some preconditions of this estimation. With Rancière, we have to ask critically, which models of effectiveness are behind artistic strategies and their expectations?
In diesem Semester jährt sich der Pariser Mai 1968 zum fünfzigsten Mal und vor zehn Jahren eröffnete uns Jacques Rancière in seiner „post-situationistischen Weisheit“, dass die heutige Situation „aus jedem Protest ein Spektakel und aus jedem Spektakel eine Ware“ macht. Diese „linke Ironie oder Melancholie [...] drängt uns dazu, zu gestehen, dass all unser Begehren nach Subversion [...] dem Gesetz des Marktes gehorcht [...]. Es bietet somit jedem an, was er erhoffen kann“.
Das Seminar wird sich in drei Schwerpunkten mit einigen Voraussetzungen dieser Einschätzung beschäftigen. Es gilt mit Rancière kritisch zu fragen, welche Modelle der Wirksamkeit hinter künstlerischen Strategien und deren Erwartungen stehen?
Theorie: Kunst bzw. Ästhetik – von der situationistischen Aktion über den Wunsch nach Partizipation zu den wiederentdeckten Objekten/Gegenständen (G. Debord, J. Rancière, C. Bishop, B. Latour)... Es steht im Raum: Den „zweifelhaften Morallektionen der Repräsentation“ (pädagogisches Modell) wurde die „Kunst ohne Repräsentation“ entgegengesetzt. Rancières Modell der ästhetischen Wirksamkeit beschreibt jedoch nicht die Aufhebung der Bereiche Kunst und Leben durch die Abschaffung der „Repräsentation“ (des Spektakels?), sondern die Anerkennung dieser Trennung als ästhetische Distanz? Als „Diskontinuität zwischen den sinnlichen Formen der Kunstproduktion und den sinnlichen Formen, vermittels derer die Zuschauer [...] sich die Kunstproduktion aneignen“. Wir werden im Seminar dieses Wirksamkeits-Modell befragen.
Psychogenese der Moral – Lüge und Gerechtigkeit (J. Piaget)... Es steht im Raum: Wie kommt es in der kindlichen Entwicklung zu einem „Unrechtsempfinden“ und wie verändert sich dieses? Thematisiert wird u.a. die moralische Einstellung zum Befolgen von Regeln (d.h. der Bezug zu Formalismen). Interessant ist vielleicht der Übergang von einer Autoritätsmoral – der Nicht-Unterscheidung von Gehorsam und Gerechtigkeit – zu einer Kooperationsfähigkeit (einem „Gewissen“?).
Entwicklungsgeschichte der Formalismen bzw. Maschinen – von A. Turing bis zu Maschinellem Lernen, Künstlichen Neuronalen Netzen und Algorithmischen Entscheidungen (Algorithmic Decision Making, ADM)... Es steht im Raum: Warum mangelt es dem Intelligenz-Ersatz noch immer am Erkennen, Verstehen und der Fähigkeit zu lügen? (O. Wiener) Und warum ist die Diskrepanz gerade da am größten, wenn die Maschinen (immer häufiger) zur Beurteilung und Vorhersage von menschlichem Handeln/Verhalten eingesetzt werden? Auch hier wird versucht, einen Bogen zu dem Modell des Anderen, des Rezipienten und des emanzipierten Zuschauers (J. Rancière) zu schlagen.
Praxis: Experimentieren mit Deep Learning... Es steht im Raum: Was sagen uns die CNN (Convolutional Neural Network) über das Visuelle und gibt es dafür eine künstlerische Verwendung? Aus aktuellem Anlass beschäftigen wir uns auch mit der im April 2018 in Kraft tretenden EU-Verordnung (2016/679) zum Schutz natürlicher Personen vor der Diskriminierung durch ADM.
Literatur:
Bishop, Claire: Artificial Hells. Participatory Art and the Politics of Spectatorship. London/New York 2012.
Piaget, Jean: Das moralische Urteil beim Kinde. Stuttgart 1983; The Moral Judgment of the Child. New York [u.a.] 1997.
Rancière, Jacques: Der emanzipierte Zuschauer. Wien 2009/2015; The Emancipated Spectator. London/New York 2009.
Wiener, Oswald: Über das Ziel der Erkenntnistheorie, Maschinen zu bauen die lügen können, d.h. eigentlich nur über einige Schwierigkeiten auf dem Weg dorthin. In: ders.: Schriften zur Erkenntnistheorie. Wien/New York 1996, S. 96-107.