Sommersemester 2009,
Katrin Wegemann
Der weißschmelzende Kaffeetisch
Niemand wurde eingeladen. Trotzdem kommt meistens doch jemand, selbst wenn die Türen und Fenster zu sind. Niemand setzt sich an den Tisch; und doch sehen die Dinge auf dem Tisch nach einiger Zeit anders aus als vorher.
Die Zeit ist fast immer da. Die Schokolade auf dem Tisch kann man vor der Zeit nicht verstecken. Aber Zeit selbst ist nicht zu sehen - nur das, was sie macht. Dazu muss man ihr aber etwas anbieten. (Am besten einen Kaffeetisch aus weißer Schokolade).
Jeder hat es gerne warm am Tisch. Und gerade die Zeit ist wie ein Tier, das gerne unter warme Lampen schleicht. Wenn es warm genug ist, kommt es und leckt an der Schokolade, die dann langsam schmilzt. Die Teekanne, die Teller, Tassen, Löffel und Gabeln ermüden und verlieren ihre strenge, stolze Haltung; sie sinken in sich zusammen und machen es sich bequem, träge und selbstzufrieden - sie geraten aus der Form.
Es dauert eine Zeit, in der sich die Form verliert; sie verschwindet nicht zwischen zwei Augenblicken. Die Zeit, in der das Gedeck zu flüssiger Schokolade wird, besteht aus vielen Momenten, von denen jeder einzelne als eine eigene Form im Gedeck zu sehen ist. Hartes, milchgläsernes Porzellan wird zu weichen, welkenden Knetfiguren, die sich dann in Gebilde aus schmelzendem Vanilleeis verwandeln. Diese Gebilde zerlaufen in trübe, wächserne Teiche und verschmelzen zu heller Flüssigkeit. Langsam löst sich das Gedeck aus Schokolade auf, und es ist Zeit zu gehen. Aber irgendjemand wird doch noch länger bleiben.
Ein gedeckter Tisch aus weißer Schokolade: je acht Teller, Untertassen, Teetassen, kleine Löffel, Kuchengabeln, zwei Kuchen, zwei Schalen mit Pralinen, eine Zuckerdose, ein Sahnegießer und eine Teekanne, die aus weißer Schokolade bestehen. Dieses Gedeck steht auf einem schwarz lackierten Tisch, an dem acht Stühle stehen. Über dem Tisch hängen drei Wärmelampen. Wenn die Lampen angeschaltet werden, schmilzt das Gedeck aus Schokolade.
Sebastian Russek
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