Wintersemester 2009/10,

Erich Engel

Hans-Joachim Ruckhäberle

 

Zu Unrecht vergessen:

Erich Engel 14. Februar 1891 - 10. Mai 1966

Bayerische Akademie der Schönen Künste 28.05.08

 

Vergessen spielt im Theater eine andere Rolle als sonst in den Künsten. Im Theater wird keiner zu Unrecht vergessen: Es werden alle vergessen. Und zwar meist schnell. Jede Generation der Schauspieler und vor allem der Regisseure hat eine Neigung sich jeweils neu zu erfinden.

Es lohnt dennoch, hier in München an einen Regisseur und Theaterleiter zu erinnern, der zwei Mal, zuerst Anfang der 20er Jahre, dann nach 1945 Theater in München wesentlich prägte. Die Frage seines Vergessens lässt sich unter verschiedenen Gesichtspunkten sehen:

- dem der allgemeinen Vergeßlichkeit gegenüber denen, die Theater machen, nicht schreiben;

- unter dem Aspekt seiner Sperrigkeit und Rigorosität als analytischer Regisseur, als „Sinnsucher“.1 Erich Engel sucht Sinn, nicht Sinnlichkeit, die hält er für leicht, zu leicht herstellbar. Solche Forderungen sind und waren im deutschen Theater nicht unbedingt populär.

 

Die Frage nach dem Sinn ist nicht die Frage nach dem Sinn, den der Autor seinem Stück gibt, sondern die Konfrontation mit einem Zeitsinn, über dessen Wesen noch alles zu ermitteln wäre. Die soziologische Schichtung der Personen, die ethische Seite des Gut und Böse, die Frage Mann und Frau usw. usw. wollen mit jener Gesetzlichkeit beantwortet werden, die der Leistung die tiefste Resonanz geben soll. Gelingt es, solche Lebensgesetze aufzudecken, deren Befolgung es ermöglicht, den Schauspieler zur naturhaften Gestaltung anzuregen, ihn nach der Wertakzentuierung seines Rolleninhaltes in das Ensemble einzufügen, die Plastik des geistigen Vorgangs durch nichts anderes sichtbar zu machen als durch die geformte Gesamtlebendigkeit aller Beteiligten, wo die Wirkung nicht entsteht durch sensationelle Aufmachung, sondern durch tiefste Allgemeingültigkeit, so ist hier in einer Zelle eines Ensembles eine geistig-organische Organisation gelungen. An einem unvergleichlich leichteren Fall wäre also das geglückt, was als Idealziel jeder Politik als Zusammenziehung der Menschen zu organischer Gemeinschaft vorschwebt: (Gegenseitige Begabungssteigerung im Ensemble. Keine Wirkung auf Kosten des andern. Nirgendwo Konzession an eine Wirkung, die aus dem Sinn herausführt.) 2

 

- Ein weiterer Aspekt ist der des politischen Vergessens. Der am Marxismus Interessierte und mit dem Kommunismus Sympathisierende paßte nicht in die westdeutsche Nachkriegszeit, schon gar nicht nach München. Auch deshalb, weil er sich weitgehend aus dem so blühenden wie opportunistischen Theaterbetrieb des Nationalsozialismus herausgehalten hatte und stattdessen virtuose und sehr erfolgreiche Unterhaltungsfilme drehte, ohne sich vereinnahmen und korrumpieren zu lassen.

(Wer darüber erstaunt ist, daß ein analytischer Regisseur ein erfolgreicher Lustspielregisseur sein konnte, der mit allen großen Stars der damaligen Zeit arbeitete, vergißt, daß die Komödie die genaueste aller dramaturgischen Formen ist.)

 

Konkret zum Thema, Vergessen in München, zum Anlaß des heutigen Abends: Erich Engel war von 1945-1947 Intendant der Münchner Kammerspiele. Sein schneller Abgang aus München, nach nur zweijähriger Intendanz, war kein friedlicher. Bei aller Entschiedenheit lässt Erich Engel es nicht zum offenen Eklat kommen, doch formuliert er seine Münchner Eindrücke deutlich in seinen Abschiedsworten an München.

 

Der eigentliche Grund ist der, daß ich mit meinen schärfsten Kritikern einer Meinung bin. Ich eigne mich nicht zum Intendanten. Allerdings vornehmlich aus anderen Gründen, als sie glauben. Ein solcher Posten hat nämlich die fatale Eigenschaft, den ganzen Menschen zu erfassen. Die Gefahr, in einer Berufskategorie unterzugehen, ist aber für mich eine Vorstellung, auf die ich mit wachsender Beklemmung reagiere. Mich drängt es zu einer Lebensform, die mir die Freiheit des Blickes zurückgibt. Die allzu große und unablässige Nähe zum Beruf raubt jene Distanz, aus der gewisse Menschen allein ihre schöpferischen Kräfte beziehen können. So ist mein Verzicht in gewisser Weise eine Selbstverteidigung.

Aber zu allen subjektiven Erwägungen kommt noch eine objektive. Die Frage nämlich, ob meine Art gerade für München die richtige sei. Ich bin in dieser noch immer so schönen Stadt ein gewisses – wenn man mir das Adjektiv gestattet – emigrantes Grundgefühl nicht losgeworden. Bei aller Empfänglichkeit für die Werte von Land und Leuten. Bei allem Sinn für bayerische Schönheit und aller Freude an seiner Ursprünglichkeit ist hier eine Lebensform gewachsen, die ich lapidar so ausdrücken möchte: der Münchner ist mehr der Vergangenheit zugewandt als offen für die Zukunft. Tradition ist hier eine viel lebendigere Kraft als im Norden. Es wäre lächerlich, den Wert einer solchen Haltung zu leugnen oder gegen eine solche Naturgebundenheit zu polemisieren. Es ist aber die Frage erlaubt, ob eine solche Haltung, die historisch große Werte erzeugt hat, in einem tiefgefaßten Sinne zeitgemäß ist. Ich bin der Meinung, wir müssen uns heute offenhalten für neue und seien es auch revolutionäre Möglichkeiten. Vielleicht können wir uns vor dem Chaos nur durch einen Sprung retten. Vielleicht müssen wir uns entschlossen vom Boden ablösen können, um wieder festen Boden zu gewinnen. Es ist klar, daß eine solche Ansicht, die fest in mir verwurzelt ist, weitgehende Konsequenzen hat. Mein Verdacht, daß jene traditionelle Haltung oft nur mit einem gewissen Krampf aufrechterhalten werden kann, verdichtete sich, wenn ich gewisse literarische Auslassungen verfolgte. Der Hang, unbedingt den Anschluß an das Vergangene zu wahren, selbst da, wo die Grundlagen brüchig geworden sind, erzeugt eine Art von ebenso anmaßender wie unklarer Metaphysik. Eine muffig gewordene Geistigkeit behängt sich mit allerhand Bildungsgut und kann doch ihre eigene Unsicherheit und das schlechte Gewissen über die eigene Unfundiertheit nicht verhehlen.3

 

Der Intendant, besser Generalintendant der Münchner Kammerspiele und des Volkstheaters, hat sich trotz eigener Skepsis nichts vorzuwerfen. Er organisiert den Neuanfang, sichert die Existenz der Münchner Kammerspiele, er sorgt für ein herausragendes Ensemble, zeitgemäße Regisseure, setzt die zeitgenössische Dramatik, d.h. die bisher unterdrückte, durch, berücksichtigt die Bedeutung der Bildenden Kunst im Theater, das Kinder- und Jugendtheater und gründet die Schauspielschule, die jetzige Otto-Falckenberg-Schule. Er inszeniert aufregend und erfolgreich, er prägt die Kammerspiele stilistisch. Wolfgang Petzet, langjähriger Dramaturg und Chronist der Münchner Kammerspiele spricht vom „Engelsstil“.4

Anders als damals üblich suchte Engel als Intendant den Bruch. Nicht Kontinuität ist angesagt, sondern das Bewußtsein eines wirklichen Neuanfanges.

Sein Theater, die Münchner Kammerspiele, will er eröffnen mit dem Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus: Auf der Bühne die Wachtürme eines KZs, dazwischen die Verfolgten, ihren Untergang in einer Collage, verfaßt von dem kommunistischen Schriftsteller Eduard Claudius, diskutierend und kommentierend.

Die Stadt München wollte eine andere Eröffnung: Lorbeerbäume, Beethoven, Reden, - und setzt sich durch.5

Auch sein Verständnis von der Aufgabe des Theaters trennte Engel vom westdeutschen Nachkriegstheater.

 

Die Aufgabe des Theaters in der heutigen Zeit ist das Transparentmachen der Realität, das Durchleuchten der Wirklichkeit bis auf ihren schöpferischen Grund. Eine solche Aufgabe geht den ganzen Menschen an [...] Ich kann nur an einen gutwilligen Glauben appellieren, wenn ich behaupte: In meinen geglückten Inszenierungen waren jene richtunggebenden Vorsätze bis zu einem gewissen Grade verwirklicht. Und da in den Besprechungen mit überraschender Einstimmigkeit die Transparenz der Vorgänge betont wurde, so scheint es glaubhaft genug, daß eben jene Lenkung es war, die dieses Resultat erzeugt hat [...] (Der) Zentralsatz lautet: Man soll Theater nicht aus dem Gefühl spielen, sondern aus der Phantasie. Das ist natürlich nicht so gemeint, als handele es sich dabei um eine prinzipielle Ausmerzung des Gefühls. Phantasie und Gefühl schließen sich nicht etwa gegenseitig aus, sondern fordern sich vielmehr heraus. [...] Der Weg zu einer immerwährenden Phantasiebeteiligung führt an einem Gefahrenpunkt vorbei. Die Umleitung weg von der subjektiven Beteiligung am Rohstoff des Gefühls muß den Umweg über den Verstand gehen. Ich sage, sie muß diesen Weg gehen, denn es gibt keinen anderen. Die Gefahr besteht nun darin, daß die Einschaltung des Verstandes das Gefühl abdrosselt und jener Verschmelzungspunkt nicht erreicht wird, wo das entsteht, was Kleist >die zweite Naivität< nennt. [...] Aus der Phantasie heraus spielen, bedeutet für den Schauspieler: umfassende Zuständlichkeit in sich erzeugen. Zuständlichkeiten, die mit natürlicher Notwendigkeit einen neuen Gestus produzieren und ebenso notwendig eine andere Sprachführung mit sich bringen, als gemeinhin auf der Bühne gesprochen wird.6

 

Die geglückten Inszenierungen, von denen Engel spricht, waren zumeist sehr geglückte, und es waren viele. Bereits als 30Jähriger gehört er durch seine Arbeiten in München und Berlin, z.T. mit denselben Stücken, zu den führenden Regisseuren seiner Zeit. Der den „politischen“ Regisseuren eher distanziert gegenüberstehende Kritiker Alfred Kerr schreibt 1929:

 

Die neuen großen Dramatiker sind noch nicht da [...], wohl aber die neuen starken Inszenatoren. Ihre Kunst ist sehr entwickelt. In Deutschland sind die neuen Regisseure stärker als die neuen Dramatiker. 7

 

Und er nennt Jürgen Fehling, Leopold Jeßner, Erich Engel, Karl Heinz Martin.

 

Wer war Erich Engel?

 

Als Mensch war Engel seinen Münchner Mitarbeitern wohl sehr fremd, Wolfgang Petzet beschreibt ihn als „eiskalt und wunderbar zugleich“, auch wohl gekränkt durch die Tatsache, daß Engel sein eigener Dramaturg war, keinen anderen brauchte und wollte.

 

Von einer leise bestimmten, ein wenig sarkastischen oder auch nur ein wenig melancholischen Stimme erfuhr man alsbald viel psychologisch Kluges, viel überraschend Erhellendes, viel nachvollziehbar Gültiges; und es war doch wie das Geschenk eines Geistes, der fern und fremd blieb.8

 

Einer, der fremd war und es wohl auch blieb. Das verraten auch die Briefe Bertolt Brechts an ihn, die immer eine besondere, fast scheue Distanz wahren.

Erich Engel war von Anfang an ein stilbildender und politischer Regisseur. Aber von der Abbildung oder Nachahmung der Wirklichkeit hielt er im Theater nichts, die Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit war für Engel eine poltische, keine ästhetische Aufgabe. Drei Punkte dazu:

 

1. Theaterspielen bedeutet: Geist verwirklichen. Aber nicht: eine Wirklichkeit reproduzieren (wo Realität dominierendes Regieprinzip ist, entstehen drei Wirklichkeitsstunden, aber keine Ewigkeit, Unvergänglichkeit). [...]

2. Das Publikum sollte vorsichtiger sein in der Verwendung des Vorwurfs der Übertreibung. Die Atmosphäre eines Werkes ist stets die Blutwärme des Autors, und kein Normalthermometer hat das Recht, hier bedenklich mit der Quecksilbersäule wackeln.

3. Noch für einen Tauben muß die Gestenfolge mit unentrinnbarem Zwange Architektur und Wärmegrad der Schöpfung zeigen. Vom Vorhangheben bis zum Schluß wickelt sich eine Gestenfolge ab, die unentrinnbar die Empfindung verleiblicht.9

 

Zusammengefaßt: „Die Aufgabe des Theaters ist es, Geistiges zu versinnlichen, nicht Wirklichkeit zu verdinglichen. Seine Mittel sind in Raum und Zeit, Wort, Gebärde, Ton, Licht und Farbe.“10

 

Was hat er getan?

 

Erich Engel, geboren am 14. Februar 1891, gestorben am 10. Mai 1966, wird nach einer abgebrochenen Kaufmannslehre, der Ausbildung zum Schauspieler, der Tätigkeit als Dramaturg, als 30jähriger einer der führenden Regisseure der Weimarer Republik, er kann an allen wichtigen Theatern inszenieren, in München und Berlin, er arbeitet mit allen damaligen Stars, ein ihm besonders verbundener Schauspieler ist Fritz Kortner. Das hat er mit seinem Lehrer Leopold Jeßner gemein, bei dem er seine zweijährige Schauspielausbildung gemacht hatte. Gemeinsam ist ihnen nicht nur die Vorliebe für den Schauspieler Fritz Kortner, sondern die Vorliebe für den räumlichen Ausdruck. (Jeßner hat die sogen. Jeßner-Bühne entwickelt, die Stufenbühne gegen die flache Bühne des illusionistischen Theaters. Regie bestand für ihn darin: das Wort in Bewegung umsetzen, Wertvorstellungen in Raumvorstellungen, in Körperkonstellationen zu verwandeln.11

 

Engel setzt Brecht durch, er entdeckt den Maler und Brechtfreund Caspar Neher als Bühnenbildner; - in München, 1922, bei der legendären Aufführung des Coriolan von Shakespeare, bei der Uraufführung von Brechts Im Dickicht, das erst später Im Dickicht der Städte heißt.

Eine besondere Arbeit verbindet 1923 beide mit Karl Valentin und Liesl Karlstadt: Der Film Die Mysterien eines Frisiersalons. Dieser Film ist „ein blutiger Witz“ (so nennt Brecht Karl Valentin), ein surrealer Film unter bewußter und gekonnter Verwendung der Mittel der frühen Filmtechnik (neben Karl Valentin mit Schauspielern beider Münchner Theater).

Der einflussreiche und für Brecht entscheidende Kritiker Herbert Ihering erkennt die direkte zukunftsweisende Nähe der beiden:

 

Brecht gehört zu der Theaterbewegung, die auf der einen Seite sich mit Piscator, auf der anderen mit Erich Engel berührt. Auch er zapft Gefühl ab. Auch er geht an gegen die individualistische Empfindsamkeit. Auch er wird immer mehr zu einer direkten Gestaltung der Zeit kommen.

Brecht, der ein neues Drama plant: Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer, modern, mit Sprechchören, ruhig, einfach, Vorgänge episch darstellend; Erwin Piscator, der den Film als chorisches, begleitendes, episches Element verwendet; Kurt Weil, der Mahagonny-Songs als episches Songspiel plant; Otto Klemperer, der aus der Musik alle falsche und verschwommene Gefühlsdramatik heraustreibt; der Regisseur Erich Engel, der als Spielleiter die unaufgeregte, klare, verständliche Darstellung der Vorgänge anstrebt – was bisher getrennt nebeneinander- und auseinanderlief, das verbindet sich.12

 

Vor allem die Coriolan-Inszenierung von Erich Engel wird gesehen als entscheidend für die Entwicklung einer neuen Dramatik.

 

[…] die Krise des klassischen Dramas und der klassischen Darstellungsform [...] wurde erkannt und methodisch zu lösen versucht, [...] durch die Coriolan-Inszenierung von Erich Engel. Eine Darstellung, die im Rückblick wertvoller erscheint als damaIs.

 

Das schreibt Herbert Ihering 1929.

 

Heute sieht man das Experiment, den Weg, das System. Man erkennt, daß hier die Krise zum ersten Mal gezeigt, daß das Problem schon deutlich herausgearbeitet war. Das Thema hieß nicht mehr: der heroische Mensch. Der Konflikt war aus dem Hektischen ins Geistige verlegt worden.

Dieses Problem gestellt zu haben, mit einer Inszenierung praktisch gestellt zu haben, bedeutete schon eine Entscheidung. Erich Engel nahm dem Coriolan alle Größe, alle Leidenschaft; Coriolan war in keinem Satze ein romantisch-aristokratisches Ideal, sondern ein erkennender Politiker. Die Problemstellung hieß nicht mehr: Egoismus und Masse, sondern Erkenntnis und Masse.

Kortner gab einen sparsamen, fast schweigsamen Coriolan, eine Darstellung, die sich nicht mehr mit einem heldischen Vorbild identifizierte, sondern die Rolle von sich abstellte, beinahe unbeteiligt von ihr erzählte, von ihr berichtete. Kein Zweifel, daß der Sinn Shakespeares verkehrt wird, wenn Coriolan ein vernünftiger Politiker geworden ist. Kein Zweifel, daß Farbe und Glanz, Aufbau und Atmosphäre der Tragödie schwinden, wenn ihre Darstellungsform so verrückt wird. Aber auch kein Zweifel, daß nur dann ein klassisches Stück über die momentane Kulissenwirkung hinausgetragen werden kann, wenn man es in die Beziehungen einer neuen Welterkenntnis einordnet.13

 

Auch Brecht erkennt und betont die Sonderstellung dieser Aufführung:

 

Außer in Engels entscheidend wichtiger Coriolan-Inszenierung wurden die Versuche zum epischen Theater nur vom Drama her unternommen. (Das erste, dieses epische Theater aufbauende Drama, war Brechts dramatische Biographie Baal, das einfachste Emil Burris Amerikanische Jugend und das bisher exponierteste – weil von einem Autor gänzlich anderer Richtung stammend – Bronnens Ostpolzug.)

Hier hat Engel für das epische Theater Punkte gesammelt. Er gab die Geschichte des Coriolan so, daß jede Szene für sich stand und nur ihr Ergebnis für das Ganze benützt wurde. Im Gegensatz zum dramatischen Theater, wo alles auf eine Katastrophe hinsaust, also fast das Ganze einleitenden Charakter hat, stand hier die Totalität unbewegt in jeder Szene.14

 

Anders als die meisten Historiker der Brecht-Theorie weiß Brecht, daß er dramatische Literatur und Theorien des Theaters entwickelt hat, es aber Ansätze in Regie und Bühnenbild, in einer Theaterpraxis gab, die ihn zu seiner Theorie und Dramatik erst konkret anregten.

Machen wir uns klar: Brecht trifft in Engel einen Erfolgsregisseur seiner Zeit, an allen wichtigen Theatern gefragt, der noch vor Brecht am japanischen Theater interessiert ist, der sich mit Marx auseinandersetzt, allerdings auf seine Weise.

 

Dieses Theater (das >politische Theater< ist gemeint) verführt also (als groteske Paradoxie) zu jener Verwechslung von Wirklichkeit und Schein, die aufzuheben wertvollste Erkenntnisarbeit des Marxismus ist.

Aber außer der Aufpeitschung habe ich ja vor allem die Aufklärung. Hier ergibt sich ein Bündel von Paradoxien. Zur Aufklärung können aus politischen Gründen nur Stücke in Frage kommen, die eindeutig als geistiges Resultat die Theorie des Marxismus bestätigen.

Wenn also die Beseitigung des Kapitalismus das wichtigste Ziel der Menschheit wäre, so kann die Kunst für diesen wichtigen Vorgang nicht das Geringste leisten. Wer hier etwas leisten will, muß aktiver Politiker werden.

Vielleicht ist aber die Beseitigung des Kapitalismus nur eine Teilerscheinung eines größeren und wichtigeren, tieferen Prozesses, der im Bereich der Wirtschaftskategorien zwar mitgefasst wird, sich aber keineswegs darin erschöpft. Sollte die latente Wirtschaftsrevolution nur ein Teil sein einer latenten Lebensrevolution, so hätte allerdings die Kunst hier noch große Aufgaben.

Die Behauptung, daß der gesamte lebendige Strom revolutionäre Tendenzen hat, deren Phasen nur zum Teil identisch sind mit den wirtschaftlichen Gestaltwandlungen, führt notwendig auf die Frage, welcher Trieb diese Bewegung vorwärts peitscht. Geschieht aber diese wirtschaftliche Revolution früher als diese biologische Seite gereift ist, so ist die Gefahr der Barbarei größer als im bloßen Kapitalismus.

Kunst kann in ihrem Wesen nicht auf eine bestimmte historische Realität abzielen, sondern auf die Wirklichkeit. Jede andere Zielsetzung fälscht sofort die gesamte Wertung. Sie muß ihren Akzent auf die formale ästhetische Seite verlegen. Denn der Inhalt, auf den sie pocht, ist eine unvariable rationale Angelegenheit geworden.

Maschinentechnik in der Kunst ist der heutige Ersatz für das, was früher ästhetischer Formalismus war.15

 

Diese Haltung mußte zu Kontroversen mit Brecht führen.

 

Lieber Engel, entschuldigen Sie meine Ungeduld in dem Gespräch über die Dialektik, das »Schimpfen wie ein Bierkutscher« ist auf diesem Gebiet anscheinend überhaupt nicht zu vermeiden! […] Die materialistische Dialektik steckt in ihren Kinderschuhen, aber davon gilt, was Marx oder Engels von der Kommune sagte: Sie zeigt das Proletariat in Kinderschuhen, aber es sind die eines Riesen. Mein Vorschlag, diese Denkweise als eine Lebensweise zu studieren bedeutet ja nur, daß man die Dialektik nicht aus der bisherigen Denkweise allein ableiten oder widerlegen muß, wie ja überhaupt die neue Lebensweise nicht abgeleitet werden kann: da ist ein Sprung nötig oder ein (eventuell günstiger) Fall fällig. […] Nehmen Sie, bitte, diesen Exkurs als eine kleine Buße, die ich mir für meine Heftigkeit auferlegte. Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, daß Sie, Ihre Erschöpfung nicht achtend, geholfen haben, das Ensemble in Gang zu bringen. Sehr herzlich Ihr alter / Berlin, Nov. 49.16

 

Wie gesagt, Brecht geht immer vorsichtig mit Engel um. Ihm hat er den Durchbruch zu verdanken. Engels Inszenierungen von Im Dickicht, zuerst in München und dann in Berlin, setzen den Dramatiker Brecht durch. Seine Uraufführung der Dreigroschenoper (1928) wird international beachtet.

(Wie souverän Engel in seiner Zusammenarbeit mit Brecht war, belegt, daß er es sich leisten konnte, Brecht nach einigen Schwierigkeiten den Wegfall der Songs in der Dreigroschenoper vorzuschlagen.)

Trotz einiger Zerwürfnisse und Trennungen bleiben Brecht und Engel bis zu Brechts Tod durch Arbeit verbunden.

 

Lieber Engel, selbstverständlich ist das Gedächtnis eines geistig fortgeschrittenen Menschen sehr schwach - aber ich habe die deutliche (allerdings dadurch noch lange nicht untrügliche) Empfindung, daß wir uns zuletzt in eher freundlicher Art besahen. Sollten wir den immer anzuratenden Austausch besonderer Höflichkeiten unterlassen haben, so wäre das eher als ein Akt von beinahe schon eherner Stetigkeit unserer Beziehung anzusehen, also sehr wohl möglich.17

 

München verlässt Engel 1947, geht nach Berlin und baut mit Brecht das Ensemble auf. Es ist auffallend, wie oft Brecht in Briefen an Schauspieler bei Anfragen darauf verweist, daß Erich Engels die Regie machen könnte.

Engel übernimmt und vollendet auch die letzte Arbeit Brechts, eine Neuinszenierung des Galilei.

 

Berlin, den 31. März 1956

Lieber Engel, ich danke Ihnen sehr für die Übernahme der Proben. Ohne Sie

wäre die ganze Arbeit vermutlich jetzt einfach zusammengefallen. Es ist angenehm, wieder mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Herzlichst.18

 

Erich Engel, der die ganze Zeit seiner Tätigkeit am BE in Westberlin wohnen blieb, aber wie Brecht auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof begraben liegt, besaß den Hochmut und die Bescheidenheit, jedenfalls das Selbstbewußtsein, auf seinen und seiner Frau Grabstein ein Hölderlin-Zitat schreiben zu lassen:

 

„Wir, so gut es gelang,

haben das Unsre getan.“

 

 

 

Vortrag, gehalten am 28.05.2008 in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, München.

Gedruckt in: Zu Unrecht vergessen. Künstler im München des 19. und 2o. Jahrhunderts. Hrsg. v. Präsidenten und vom Direktorium der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Göttingen 2009, S. 43-61.

 

 

 

 

1 Erich Engel, Zielpunkt der Regie: Herausarbeitung des Sinns (1928), In: Erich Engel, Schriften über Theater und Film, Berlin 1971, S. 26.

2 Ebd., S. 26 f.

3 Wolfgang Petzet, Theater. Die Münchner Kammerspiele 1911-1972, München 1973, S. 433-434.

4 Wolfgang Petzet, Theater. Die Münchner Kammerspiele 1911-1972, München 1973, S. 421.

5 Ebd., S. 425.

6 Ebd., S. 425 ff.

7 Günther Rühle, Theater in Deutschland 1887-1945, Frankfurt am Main 2007, S. 578.

8 Wolfgang Petzet, Theater. Die Münchner Kammerspiele 1911-1972, München 1973, S. 416

9 Erich Engel, Zielpunkt der Regie: Herausarbeitung des Sinns (1928), In: Erich Engel, Schriften über Theater und Film, Berlin 1971, S. 13.

10 Ebd., S. 15.

11 Günther Rühle, Theater in Deutschland 1887-1945, Frankfurt am Main 2007, S. 392 f.

12 Erich Engel, Schriften, Zeittheater (Konzeption eines Vortrags 1929) S. 301.

13 Herbert Ihering, Reinhardt, Jessner, Piscator oder der Klassikertod?, 1929 in Der Kampf ums Theater und andere Streitschriften 1918 bis 1933, Berlin 1974, S. 317.

14 Bertolt Brecht, Der Piscatorsche Versuch in: Gesammelte Werke 15, Schriften zum Theater I, Frankfurt am Main 1967, S 133 ff.

15 Erich Engel, Schriften, Zeittheater (Konzeption eines Vortrags 1929), S. 21.

16 Bertolt Brecht, Briefe, hrg. u. kommentiert von Günter Glaeser, Frankfurt am Main 1981, S. 624 f.

17 Bertolt Brecht, Briefe, hrg. und kommentiert von Günter Glaeser, Frankfurt am Main 1981, S. 132.

18 Ebd., S. 777.